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Spielen und Gehirn




86 Milliarden Nervenzellen, 100 Trillionen Verbindungen, 7.6 Milliarden Empfindungen und Eindrücke: Das Gehirn ist der komplexeste Organismus im Universum. Es bestimmt unser Erleben und Verhalten, unser Können und Wollen. Spielen spielt bei der Entwicklung des Gehirns eine entscheidende Rolle. Nora M. Raschle erklärt uns wie.
Interview: Thomas Eberhard

Wie entwickelt sich ein Gehirn?
Bei der Geburt sind die wichtigsten Gehirnstrukturen bereits vorhanden. Von da an lernt das Gehirn jede Sekunde dazu. Lernen heisst, dass sich die Struktur des Gehirns stetig verändert und sich zunehmend Verknüpfungen zwischen Gehirnzellen und -regionen bilden. Gene und Umwelt sind dabei wie ein Tandem. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns ist das Resultat von genetischer Veranlagung und Umfeld, in dem sich ein Mensch bewegt.

Welche Rolle kommt dabei dem Spielen zu?
Das freie Spiel ist für die Entwicklung von Kindern sehr wichtig. Es erlaubt ihnen, Neues auszuprobieren, in fremde Rollen zu schlüpfen, andere Perspektiven einzunehmen oder sich in Gruppen soziale Verhaltensweisen anzueignen. Das spielt sich im Gehirn ein und bildet sich ab. Im Spiel kann ein Kind also etwas hundert Mal ausprobieren und viel später im Leben wieder darauf zugreifen.

Aus neurowissenschaftlicher Sicht erreicht die Gehirnreifung erst mit 22-25 Jahren ihren Höhepunkt. Diese lange Zeit der Entwicklung ermöglicht es uns, sehr lange über unsere Umwelt und über unsere Erfahrungen Neues zu erlernen. Kinder, die viel spielen und viele Anregungen haben, profitieren enorm davon. Das Gehirn mag es gern bunt, es hat gern viele verschiedene Reize und Anregungen von aussen.

Was heisst das für die Angebote der offenen Arbeit mit Kindern?
Uns Menschen ist eine enorme Neugier eigen. Diese Neugier, die Offenheit Neues zu erforschen und auszuprobieren bildet die Grundlage des Lernens. Es bietet den Grundbaustein unserer Entwicklung und unseres Verhaltens, und somit unseres Menschseins. Eure Spielangebote holen die Kinder genau dort ab. Sie wecken die Neugierde, ermuntern die Kinder für möglichst vielfältiges Ausprobieren, muten den Kindern auch ab und an etwas zu. Das ist Futter für das Gehirn. Je vielfältiger der Input, desto grösser die Chance, dass man etwas Neues lernt. Jede dieser Möglichkeiten bietet eine andere Chance unser Gehirn zu schulen.

Was wird im Spiel besonders trainiert?
Während einer Freizeitaktivität oder dem Spiel werden viele verschiedene Fähigkeiten trainiert, vor allem werden aber auch sozioemotionale Fähigkeiten geschult. Das sind Fähigkeiten die wichtig sind für unser soziales und emotionales Funktionieren. Sozioemotionale Fähigkeiten hängen nachgewiesenermassen auch damit zusammen, wie wir mit Herausforderungen in unserem Leben umgehen können. Sie stehen in Verbindung mit dem gegenwärtigen und zukünftigen Wohlbefinden eines Menschen.

Stichwort «Gamen»?
Jede Art von Spiel oder Freizeitaktivität trainiert eine andere Fähigkeit. Spiele erlauben es uns auch, in verschiedene Welten abzutauchen. Das menschliche Gehirn kann von verschiedenstem Input profitieren. Im Idealfall wird nicht nur eine dieser Möglichkeiten genutzt. Wie gesagt: Unser Gehirn mag es gerne bunt und anregend. Für unser Lernen bedeutet dies im Idealfall, Input verschiedenster Reize.




Nora M. Raschle
ist Professorin für Psychologie am Jacobs Center for Productive Youth Development der Universität Zürich. Ihr Forschungsbereich ist die entwicklungsbezogene Neurowissenschaft bei Kindern und Jugendlichen. Im NMR KidsLab leitet sie die Bildgebungsabteilung.
 
NMR-Kids Lab
Mit bildgebenden Verfahren werden Strukturen und Veränderungen des Gehirns sichtbar gemacht. So lässt sich die Funktionsweise des Gehirns erforschen. Das Kids Lab arbeitet mit vielen unterschiedlichen Familien, Kindern und Jugendlichen. Die Forscher*innen finden so viel darüber heraus, wie sich das menschliche Gehirn entwickelt, wie es lernt und welche Faktoren die Entwicklung des Gehirns positiv oder negativ beeinflussen.